Rezension

Foto: Bernd Eßling

Das Anschauen von Kunst bringt den Betrachter auf neue Gedanken. Friederike Wiegand gibt dem Betrachter dafür einen Leitfaden.

 

Mainzer Rhein-Zeitung, Mittwoch, 27. November 2013, Seite 23

Mainzer Kultur

 

 

Sie öffnet die Augen für die Welt der Bilder

 

Lektüre Mit ihrem Buch „Die Kunst des Sehens“ gibt Lehrerin Friederike Wiegand einen Leitfaden zur Kunstbetrachtung

 

Von Gerd Blase

 

 

 

Mainz. Rom im 6. Jahrhundert vor Christus: König Servus Tullius liegt geschlagen am Boden. Seine Tochter im prächtigen pferdebespannten Wagen schert das nicht. Tullia weist ihren Bediensteten mit starker Geste an: Ja, er möge voran fahren, auch über den leblosen Körper des Vaters hinweg. Diese machthungrige Frau geht – oder fährt – eben über Leichen.

Mainz im Dezember 2013: Friederike Wiegand sitzt im Elternsprechzimmer des Rabanus-Maurus-Gymnasiums und hält ihr Buch in Händen. Aufgeblättert ist die Seite mit Jean Bardins Bild „Tullia fährt über die Leiche ihres Vaters“. Es ist ein Meisterstück des Barock. Das Original hängt im Landesmuseum Mainz.

„Im Grunde können Sie so ein Bild nach ganz einfachen Prinzipien interpretieren“, sagt Wiegand. Genau das aber passiere in den gängigen Kunstbüchern nie. „Die enthalten ungeheuer viel Geisteswissenschaftliches und Philosophisches. Oft verstehe ich gar nicht, was die mir sagen wollen. Da muss ich erst mal den Text interpretieren, bevor ich zum Bild komme.“

Also schrieb die Gymnasiallehrerin für Kunst und Physik ihr eigenes Buch „Die Kunst des Sehens – Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung“, in dem sie alles anders machen wollte. In einer klaren, knappen Sprache führt sie an Kunstwerke aus allen Epochen heran.

Es geht ihr dabei im Kern um elementare bildnerische Mittel: den Punkt, die Linie, die Form, der Raum, die Farbe und die Komposition. Jedem dieser Aspekte ist ein Kapitel mit einem bestimmten Bild gewidmet.

 

Verlierer im Mittelpunkt

Am Anfang also steht der Punkt: Wo ist was im Bild positioniert? Wiegand pickt ein Detail heraus, den „Loser´s Point“. Der Begriff stammt aus dem Film. Gemeint ist, dass der Verlierer oft im Mittelpunkt eines Bildes zu entdecken ist. Wiegand illustriert das in ihrem Buch mit einer Szene aus „Casablanca“: Rick alias Humphrey Bogart steht tatsächlich in der Mitte der Momentaufnahme, links neben ihm ist die Frau zu sehen, die ihn verlässt.

Und in Bardins Werk? Da ist der Wagenlenker der Verlierer. Er zögert, will nicht über den alten König fahren, obwohl ihm die herrische Tullia ganz klar die Richtung vorgibt. Er steckt in der Klemme.

„Meine Schüler verblüfft dieses einfache Beispiel“, erzählt die Lehrerin. Überhaupt: Von ihren Schülern redet sie öfter.

Seit 1978 unterrichtet sie an Gymnasien, seit 1991 am Rabanus Maurus. Nach Jahrzehnten der Lehre müsste sie nach dem gängigen Klischee ausgebrannt sein, genervt und desillusioniert. Aber das Gegenteil scheint der Fall. Wiegand erzählt lebhaft und frisch, sie wirkt engagiert, ihren Schülern zugewandt.

All das hat sich auf ihr Buch übertragen. Mit seinen Schaubildern, Tabellen und seiner klaren Gliederung hat das Werk etwas von einem Schulbuch, aber eben im guten Sinn. Es beginnt schon damit, dass die Autorin über den Tellerrand der bildenden Kunst hinwegschaut. Sie bezieht den Film ein, die Fotografie und die Werbung.

 

Zickzack im Bild

Wie ein Werkzeugkasten lässt sich ihre „Kunst des Sehens“ nutzen: Ein Ahnungsloser steht vor Baudins Bild und will wissen, wie er herangehen soll. Er blättert und wählt einen Aspekt, die „Linie“. Kompositionslinien können von links nach rechts aufwärts weisen, sie können ordentlich als Raster über dem Bild liegen – und dann ist da noch dieses unruhige Hin und Her einer Linie, ein Zickzackverlauf. Der findet sich im Körper des Wagenlenkers, des Losers, wieder. Der dreht und windet sich. Er weiß nicht, was er tun soll. Losfahren? Sich weigern?

„So ein Buch, in dem solch einfache Prinzipien erklärt werden, gibt es einfach nicht“, meint Wiegand. Sie schrieb also in eine Lücke hinein. Vor sechs Jahren kam ihre diese Idee, nun endlich liegt das fertige Werk da: reich bebildert, klar strukturiert und höchst ansprechend aufgemacht.

Viele wird es einladen zum Durchlesen in einem Rutsch. Aber auch Lesemuffel können es nutzen. Notfalls nehmen sie sich den Glossar vor oder jene eine Seite, auf der es Wiegand hervorragend gelungen ist, ihre Kerngedanken zusammenzufassen. Der Mainzer Lehrerin ist ein Werk gelungen, das Laien wie Spezialisten helfen kann, die Welt der Bilder neu oder wieder zu entdecken. Es ist verblüffend, wie viel ein Blick allein auf die Farbkomposition oder die Raumaufteilung eines Kunstwerks sagen kann.

„Kunstbetrachtung fördert Kreativität und bringt uns auf neue Gedanken“, schreibt Autorin in ihrem Schlusswort. Das tut auch ihr Buch. Es ist wie ein frischer Wind im staubigen Blätterwald der dicken Schinken über die Kunstwerke der Welt.

 

Friederike Wiegand: „Die Kunst des Sehens – Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung“, Daedalus Verlag, 154 S., 24,95 Euro

 

 

 

 

 

Andrea Wagenknecht

Redakteurin

 

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